(vgl. auch http://pcm.murdochs.eu/was-koennen-wir-von-jesus-wissen-ii/)
Diese Frage könnte theoretische verstanden werden. So ist sie nicht gemeint! Ich schreibe diese Zeilen während einer Studienreise des ABH bei der jungen Netanya Kirche in Indien. Während der letzten 39 Jahren haben 200.000 Kastenlose und Adivasi (Anhänger von Naturreligionen in Urwaldstämmen) zum Glauben an Jesus Christus gefunden. Eine ganz schlichte, auf die Texte des neuen Testaments basierende Verkündigung, von kaum gebildeten einheimischen Evangelisten und Pastoren ihnen vorgetragen und vorgelebt, hat ihnen Jesus so nahe gebracht, dass sie ihr Leben ihm weihen wollten. Sie haben Jesus kennengelernt und lernen ihn im Hören auf das Wort immer besser kennen.
Was wissen wir von Jesus? Genug! Wir wissen über Jesus genug! Genug, um an ihn glauben zu können; genug, um ihn persönlich kennen lernen zu können; genug, um Ihm nachfolgen zu können; genug, um seinen Willen zu erkennen; genug, um durch ihn zu einem neuen Leben wiedergeboren zu werden; genug, um andere Menschen zu ihm hinführen zu können; genug, um Leben und volles Genüge zu haben; genug, um den Frieden, der alle Vernunft überragt, zu haben; genug, um unser Leben ihm zu weihen; genug, um ihn als Herrn unseres Lebens zu haben. All das und vieles mehr haben wir, weil wir Jesus Christus kennen (Philipper 3,10; Epheser 1,17; 1Johannes 2,3).
Die Evangelien betonen, dass sie auf Augenzeugen zurückgehen
Das Wort der Schrift reicht vollkommen aus (2Timotheus 3,16) – auch wenn die Schrift keineswegs erschöpfend zu jedem Thema Stellung nimmt, alle unsere Fragen beantwortet oder alles vom Leben und Wirken Jesu berichtet. Das sagt sie übrigens von sich selbst: „Es sind noch viele andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn aber eins nach dem andern aufgeschrieben werden sollte, so würde, meine ich, die Welt die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären“ (Johannes 21,25). Aber die Schrift gibt uns genug an die Hand, um alle notwendigen Entscheidungen zu treffen, Lösungen zu finden und eben auch Jesus kennen zu lernen. Dazu müssen wir nicht wissen, was sich außer der Flucht nach Ägypten und dem Bar Mitzvah Fest in Jerusalem alles zugetragen hat in der Kindheit Jesu. Dazu müssen wir nicht wissen, wie Jesus ausgesehen hat oder ob Josef noch gelebt hat, als sie seinen Dienst begann. Dazu müssen wir nicht wissen, ob Jesus weniger als ein Jahr zwischen seiner Taufe und seiner Kreuzigung gewirkt hat, wie es den Anschein haben kann nach den ersten drei Evangelien, oder sogar drei Jahre lang von der Obrigkeit gesucht wurde, bis es endlich zu seiner Hinrichtung kam. Dazu müssen wir auch nicht wissen, auf welchem Wege die Evangelien entstanden sind oder warum es für uns manche Ungereimtheiten in deren Darstellungen gibt. In Anlehnung an den großen amerikanischen Schriftsteller Mark Twain können wir sagen: uns beunruhigen nicht die Dinge in den Evangelien, die wir nicht verstehen, sondern gerade die Dinge, die wir verstanden haben!
Das Wissen von Jesus hat zwei Ebenen: die der Kenntnis und die der Erkenntnis
Unsere Art und Weise im Albrecht-Bengel-Haus Theologie zu treiben trägt dieser Tatsache Rechnung. Der Glaube ist kein theoretisches Konstrukt, der sich aus Lehrsätzen bildet, sondern ist der Aspekt unserer persönlichen Beziehungen zum lebendigen Herrn, ein Urvertrauen in seine Güte und Gnade, in seine Vergebung und Erlösung, in seine Führung und Fürsorge. Glauben heißt ganz und gar von Jesus Christus abhängig zu sein. Theologischen Lehrsätze sind der Versuch, diesen lebendigen Glauben zu beschreiben und zu schützen. Inhaltlich wie geschichtlich ist die Theologie aus der Verteidigung des Glaubens (Apologie) hervorgegangen.
Noch überzeugt der Jesus, den wir kennen, mehr als irgendein Anderer die Menschen weltweit. Noch ist der christliche Glaube der weltweit am stärksten wachsende Glaube, gefolgt vom Islam und dem praktischen Atheismus/Agnostizismus. Bei uns in Europa ist der christliche Glaube der am stärksten schwindende Glaube – zu Gunsten des Atheismus/Agnostizismus. Das bedeutet, dass während der christliche Glaube bei uns abnimmt, weltweit gesehen Millionen von Menschen jährlich Jesus Christus als ihren Retter kennenlernen. Anderswo auf der Welt lernen Menschen Jesus kennen – hierzulande schreiben die Menschen ihn ab. Woher kommt das? Ein Hauptproblem liegt in der Art und Weise, wie wir in Europa seit der Aufklärung mit „Wissen“ und „Erkenntnis“ umgehen.
Anfang des 18. Jahrhunderts gab es einen theologischen Streit über diese Lehre der „Suffizienz“ der Schrift. Auf der einen Seite wurde von der katholischen Theologie behauptet, dass die Bibel materiell aber eben nicht formell ausreichen würde, auf der anderen Seite wurde von der aufkommenden Bibelkritik gerade auch materiell die „Insuffizienz“ der Bibel behauptet – eben weil sie in der Materie nicht vertrauenswürdig sei. Die nächsten 200 Jahre der Evangelienforschung an deutschen Universitäten führten zu dem berühmten Werk von Albert Schweizer „Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“, in dem das Fazit zog, dass das Leben Jesu nicht rekonstruierbar sei. Danach stellte Rudolf Bultmann seine These auf, dass dies auch nicht notwendig sei, da es allein auf „den verkündigten“ Christus ankomme, und nicht auf einen „historischen“ Jesus. Sein Hauptfehler war, den historischen Jesus und den verkündigten Christus gegeneinander auszuspielen. Wir halten an der Kontinuität zwischen beiden fest! Der Jesus, dessen Leben und Wirken in den Evangelien geschildert wird, erweist sich den ihm Vertrauenden heute noch als lebendig und mächtig im Wirken.
Die Evangelien in ihrer Ganzheit zeichnen ein vielschichtiges, oftmals nicht leicht zugängliches Bild von Jesus. Wir tun uns manchmal schwer, das alles auf einer Reihe zu bringen. Auf der anderen Seite sind die einzelnen Worte Jesu und die Berichte über sein Leben und Wirken meist in sich sehr klar und deutlich. Hier sprechen die Väter von der „Klarheit“ (perspecuitas/claritas) der Schrift. Wo die Schrift nicht von sich aus klar in ihrer Intension ist, ist das meist so gewollt. Jesus hat gerne in der Öffentlichkeit in Gleichnissen geredet. Das war ein fester Baustein seiner Strategie. Auch seine Jünger haben seine verdeckte Redeweise nicht immer verstanden. Manches von dem, was er gesagt und getan hat, wurde ihnen erst nach der Kreuzigung und Auferstehung deutlich. Manches ist uns unklar, weil uns der nötige Zugang fehlt. So gab es bis zum Jahr 2011 keine überzeugende Erklärung dafür, dass die Chronologie der Karwoche nach Johannes anders zu sein scheint als bei den ersten drei Evangelien. Erst die bahnbrechende Arbeit von Colin J. Humphreys zu den antiken Kalendarien hat Licht auf das Rätsel geworfen. Manch eine dunkle Stelle wird auch vorerst ungelöst bleiben. Wer die Evangelien immer wieder unbefangen und mit Sachkenntnis liest, wird immer wieder von diesem Jesus überrascht, angefochten, begeistert, motiviert, bewegt.
Dabei ist Jesus keineswegs eine „einfache“ oder „eingängige“ Gestalt. Jesus nimmt sich kein Blatt vor den Mund, versucht nicht den Menschen zu gefallen. Wen Jesus lieb gewinnt, dem mutet er die Entsagung und Nachfolge zu! Er warnt vor den Konsequenzen der Nachfolge, vor dem Hass und vor der Verfolgung durch die Menschen. Er weist Menschen schroff ab – vergleicht sogar die syro-phönizische Frau mit einem „Hund“, zu jener Zeit übliches Schimpfwort der Juden für die Heiden. Er schafft es wiederholt, „die Kirche leer zu predigen“, Sympathisanten zu verprellen, die Erwartungen seiner „Fangemeinde“ zu enttäuschen. Auf der anderen Seite hat er eine Liebe und ein Erbarmen für die Menschen, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Er nimmt sich Zeit für die Kinder, für die Ausgestoßenen, für die Unreinen, für die Verhassten der Gesellschaft. So wie er es durch seine Diener in Indien auch heute tut und die Welt und das Leben der Menschen dort verändert.
Was wissen wir von Jesus? Für die praktische Nachfolge gibt uns die Schrift genug Wissen! Die Frage bleibt – kennen wir ihn auch dadurch? Wir können zwar endlos von ihm lernen. Wissen wir genug, dass unser eigenes Leben dadurch verändert wird und wir anderen von ihm glaubhaft erzählen können?